HannoRad [Eingangsseite] [Inhalt] [Gästebuch] [Adressen] [Impressum]

100 Jahre Rüpelradler

Soziale Aspekte der frühen Fahrradnutzung

Mit dem Übergang vom Hochrad zum luftbereiften "Sicherheits-Niederrad" nahm die Fahrradnutzung ab 1885 deutlich zu. Etwa gleichzeitig wurde der Argwohn der Polizei geweckt. Da die ersten Radfahrer fast nur Sport- und Freizeitfahrer waren, sah die Polizei Radfahren als überflüssigen Luxus, der gegenüber den ernsthaften Verkehrsteilnehmern - zum Beispiel Fuhrwerken und Fußgängern - zurückzustehen habe. Radfahrer nutzten häufig die vom Belag her bequemeren Wege der Fußgänger, außerdem machten ihre zunächst recht ungewohnten Geräte die Pferde scheu. Deshalb wurde in der Provinz Hannover am 12.5.1891 das Fahren "mit Velocipeden auf allen Promenaden und Fußwegen verboten" und verordnet, Radler haben abzusteigen, wenn "ein Thier scheu oder unruhig wird". Das neue Verkehrsmittel wurde dem bestehenden Verkehr untergeordnet. Fußwege sollten dem ungehinderten Fußgängerverkehr zur Verfügung stehen. Gelegentlich erscheinen die Regelungen als Schikanen gegen ein Verkehrsmittel, das aus heutiger Sicht im Vergleich mit der Zerstörungskraft des Autos fast ungefährlich ist. Man muß aber bedenken, welche Veränderung das lautlose und schnelle Fahrrad für die Zeitgenossen bedeutete.

Angesichts der Gefahren mußte ein Tempolimit für das neue Fahrzeug her. Besagte erste Verordnung begnügte sich mit der Auflage, "langsam" zu fahren. Andere Länder ließen die Geschwindigkeit eines trabenden Pferdes zu. Dennoch fuhren Radfahrer recht schnell, besonders, wenn sie eine Verkehrsregel übertreten hatten und schnell verschwinden wollten. Mancherorts mußten daher Radfahrer Fahrradnummern führen, so auch vor 1900 für wenige Jahre in der Stadt und im Kreis Hannover. In der Provinz Hannover mußten die Radfahrer eine sogenannte "Radfahrkarte" bei sich tragen, damit ein Polizeibeamter gegebenenfalls die Personalien aufnehmen konnte.

In den Jahren vor 1900 wandelte der beträchtlich zunehmende Fahrradverkehr seinen Charakter: Fahrräder wurden immer preisgünstiger und in größeren Mengen verkauft, das Fahrrad wurde jetzt nicht mehr nur zum Sport, sondern im Alltag benutzt.

Die Radfahrer hatten sich im "Jahrhundert der Vereine" schnell organisiert. Zunächst dienten die lokalen Vereine nur gemeinsamen Ausfahrten. Später verhandelten räumlich übergreifende Organisationen wie der Deutsche Radfahrerbund mit der Verwaltung, um Verbesserungen für die Radfahrer im Alltagsverkehr zu erreichen. Dabei war die Position der Radler eine Zeitlang recht günstig, denn einerseits war das Rad im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts noch "schick", andererseits zeigte sich bereits seine Nützlichkeit jenseits des bloßen Sports. Die Vereinsfunktionäre gehörten zur gehobenen bürgerlichen Gesellschaft. Als Ausgleich für das Entgegenkommen der Behörden forderten sie Selbstdisziplin der Radfahrer und drängten oft auf die Einführung von Nummernschildern. Kurze Zeit glaubten einige Enthusiasten, dem Fahrrad gehöre die Zukunft und forderten eine Anpassung der Verhaltensweisen von Fußgängern.

In dieser Zeit wurde die Polizei aufgeschlossener für die Bedürfnisse des Fahrradverkehrs. Nun stand nicht mehr die Freiheit der Gehwege im Mittelpunkt des Interesses, sondern die Fahrbahn. Gehwege konnten nun zu Radfahrwegen erklärt werden, auf denen Fußgänger nichts mehr zu suchen hatten, im zwischenörtlichen Verkehr gehörten die Seitenstreifen nicht mehr den Fußgängern allein. Andererseits durften Fußgänger sich nicht mehr beliebig auf der Straße aufhalten, die zur "Fahrbahn" wurde.

Im Windschatten des Fahrrads fuhr bereits das Automobil. Häufig waren Fahrradhändler die ersten, die sich ein motorisiertes Verkehrsmittel leisteten. Während das Fahrrad schon in den ersten Jahren nach 1900 zum Massenverkehrsmittel wurde und damit kaum noch als Statussymbol taugte, wendeten sich Träume und Luxusbedürfnisse dem Auto zu. Die bürgerlichen Radfahrverbände verloren an Mitgliedern und an Durchsetzungskraft. Der Arbeiter-Radfahrbund blieb mit fast 100.000 Mitgliedern ohne Einfluß.

Nach dem Ersten Weltkrieg wandelte sich die Verkehrspolitik weiter. Widerstand gegen Lärm und Schmutz und Schutz des Fußgängerverkehrs schwanden; statt dessen wurden Fußgänger und Radfahrer gleichermaßen zugunsten des modernen" Verkehrs diszipliniert. Die Radfahrer sollten Handzeichen geben, sich nicht zwischen wartenden Fahrzeugen durchschlängeln und nicht nebeneinander fahren. Die Fußgänger sollten rechtwinklig die Straße queren, nicht darauf stehen bleiben und sich vorher nach dem Fahrzeugverkehr umschauen. Die Verkehrswacht wurde von der Kraftfahrlobby gegründet und wirkte gemeinsam mit der Polizei auf Disziplin hin. Zum Leitbild der dynamischen Moderne wurde nicht das lautlos schnelle Fahrrad, sondern der dröhnende Verbrennungsmotor der Kraftfahrzeuge. (un)

Stefan Brüdermann


© 1996 - HannoRad - Verwendung gegen Beleg und Quellenangabe